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Flechten, die ältesten Pflanzen der Erde
Als wahre Pioniere und Überlebenskünstler sind Flechten rund um den Erdball bekannt: sie besiedeln Arktis und Antarktis, wachsen in Wüsten und im Hochgebirge und klammern sich sogar an Felsen mitten im salzigen Spritzwasser. In unserer Alltagswelt sind Flechten vielerorts präsent: sie finden sich an Mauern, Dachziegeln, Zäunen und Baumstämmen und zieren diese oft auch mit ungewöhnlichen Farben. Da Flechten Wänden und Bäumen, wie oft befürchtet, keinen Schaden antun, sollte man sie am Haus und Garten keinesfalls entfernen, sondern sich an der Vielfalt von Formen und Farben erfreuen.
Seit alters her machen sich die Menschen die Flechten zunutze. Im alten Ägypten gebrauchte man sie zur Einbalsamierung, und das biblische Manna, das dem hungernden Volk in der Wüste geschickt wurde, wird eine eßbare Flechte gewesen sein. Als Delikatesse zählen in Japan die Iwatake-Flechten, während in unseren Breiten Flechten, die nur in Notzeiten nach den Kriegen als Ersatznahrung gebraucht wurden, heute zu Gestecken und zur Parfümgewinnung verwendet werden.
Wenig bekannt ist, dass Flechten, die alle benötigten Stoffe nur aus Luft und Regen beziehen, keinen einheitlichen Organismus darstellen, sondern eine Symbiose eines Pilzes mit einer Alge sind. Die Pilze liefern der Grünalge dabei alle für die Photosynthese notwendigen Mineralien und nehmen den gebildeten Zucker auf.
Weltweit gibt es über 20000 Flechtenarten; bei uns in Mitteleuropa kommen immerhin noch 2000 Arten vor. Am einfachsten lassen sie sich nach ihrer Wuchsform ordnen. Krustenflechten entwickeln sich zu flachen Gebilden, die fest mit dem Untergrund, Stein oder Baumrinde, verbunden sind und dort als bunte Farbflecke erscheinen. Blattflechten sind mit Haftfasern am Untergrund verbunden – häufig Baumstämme oder Holzpfähle – und entwickeln die Form einer Blattrosette. Strauchflechten, die regelrecht buschig wachsen, zeigen sich entweder am Boden, wie die Rentierflechte, oder an Bäumen.
Mit ihrem Wachstum lassen sich Flechten viel Zeit; schließlich können sie alle benötigten Stoffe nur über die Luft und das Wasser aufnehmen. Während einheimische Blattflechten pro Jahr bis zu einem halben Zentimeter wachsen können, braucht die Landkartenflechte, die im Schnee der Alpen gedeiht, für diesen Zuwachs ein Jahrhundert; mit bis zu 9000 Jahren Lebensalter zählt sie zu den ältesten Pflanzen unserer Erde.
Der Umstand, dass Flechten fast überall wachsen und mit der Luft zwangslaüfig auch alle Schadstoffe aufnehmen, macht sie zu zuverlässigen Bioindikatoren. Schon bei geringer Luftverschmutzung zeigen sich Störungen und Kümmerwuchs, wenn diese über längere Zeit erfolgt. Eine stärkere Luftverschmutzung über einen umfassenden Zeitraum führt zum Absterben der Flechten. Durch Auszählung der Häufigkeit und Verteilung von Flechtenarten an Baumstämmen ist es möglich, ein wissenschaftlich gesichertes Abbild der Luftverschmutzung in einem untersuchten Gebiet zu schaffen.
Peter Busch