Die schwarzen Gesellen

Amseln            
Während die Elstern und Eichelhäher bereits das Weite suchen, wenn sie mich nur von Ferne sehen und das Rotkehlchen dagegen mir fast bis auf die Hand hüpft, gehören die Amseln (auch Schwarzdrossel genannt) in die Kategorie „Schauen wir mal, was passiert“. Wenn sie wissen, dass sie im fruchtbehangenen Johannisbeerstrauch gut versteckt sind, warten sie, wie die Hasen auf dem Feld, bis zum letzten Moment mit ihrer Flucht. Streng nach dem Motto: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral – wenn er mich nicht sieht, kann ich getrost weiterfuttern“. Beim ersten Blickkontakt mit mir geht’s dann aber ab in den nächsten Busch. Geschimpft wird auf jeden Fall, schließlich müssen sie ihre vitaminreiche Mahlzeit unterbrechen – zumindest so lange, bis ich wieder unsichtbar geworden bin. Danach geht’s sofort zurück und das Essen kann weitergehen.    
Was mir in jedem Jahr auffällt, ist, dass meine frühen Johannisbeeren von ihnen nicht angerührt werden, obwohl diese meiner Meinung nach weniger Säure enthalten als die späteren Sorten. Oder gerade deshalb? Auch wenn die reifen Beeren noch so verlockend rot glänzen, sie wandern ausnahmslos in Menschen­mägen. In dieser Zeit werden die Kirschen reif – vielleicht liegt’s auch daran. Aber dass sie von den reifen Kirschen satt werden, muss ich doch bezweifeln, da sie die Früchte nur anpicken und sofort die benachbarte Kirsche ins Auge fassen. Sicher können sie sich nicht entscheiden, ob sie die erste Kirsche weiterverzehren sollen, da die daneben hängende doch so viel leckerer ausschaut – und die daneben auch… Zusammen mit ihren Mitessern – Dohlen, Stare und Tauben – veranstalten sie auf jeden Fall eine riesige Sauerei, wenn unter dem Kirschbaum alles klebt und der Rasen voller angepickter Kirschen liegt. Wenn dann nicht ein kräftiger Gewitterschauer alles reinwäscht, kann ich kaum noch einen Amselgesang hören – so laut ist das Gebrumm der Wespen und Fliegen, die danach in tagelanger Arbeit die süße Masse Molekül für Molekül ablecken müssen. Den Kirschen selbst trauere ich allerdings nicht nach, da sie seit einigen Jahren fast ausnahmslos mit Maden der Kirschfruchtfliege bestückt sind und wir deshalb das Ernten komplett eingestellt haben.
Wenn die späten Johannisbeeren reifen, baue ich meine „Antivogelvoliere“ darüber. Dazu nehme ich ein Netz aus festen Garnen, das die Beeren beschützt, ohne Vögel zu fangen. In meinen Anfangsjahren habe ich nämlich diese hellgrünen, labbrigen Billignetze dafür genommen. Da musste ich alle paar Tage (sehr wehrhafte) Amseln aus den Maschen befreien und das muss nun wirklich nicht sein.
Interessant ist zudem in jedem Jahr, dass ich das Netz rundum mit Brettern und Steinen bündig mit dem Boden abschließe und den Vögeln keine – absolut KEINE – Durchschlupfmöglichkeit lasse. Trotzdem schafft es in jedem Jahr mindestens ein Vogel, dort hineinzukommen, obwohl das eigentlich nicht möglich sein kann! Wenn ich dann aber das Netz eine komplette Seite hochschlage, um ihm die Flucht zu ermöglichen, findet er natürlich diesen Riesenausgang nicht und fliegt laut schimpfend immer in die falsche Richtung, bis er (wahrscheinlich irrtümlich) den Ausgang endlich findet. Versuche mit einer Kunststoff-Krähe in den Johannisbeerbüschen, die die Amseln abschrecken sollte, waren nicht von Erfolg gekrönt. Ich meine sogar, in den Folge­tagen kleine Lachsequenzen in ihren Gesängen herausgehört zu haben.    
Apropos Gesang: der ist sehr melodiös und angenehm für die Ohren. Am schönsten ist die Kombination: morgens, wenn ich noch im Bett liege und eine Amsel singt im Magnolienbaum, der vor dem Schlafzimmerfenster steht – angenehmer kann man kaum geweckt werden. Nur eines darf dann nicht passieren: dass sich eine Katze unter die Magnolie legt! Die in so einem Fall zu hörenden Warnrufe mögen ja für die Tierwelt recht hilfreich sein – aber spätestens nach einer halben Stunde lautstarkem „keck – keck – keck“ öffne ich dann doch das Fenster, um entweder dem Vogel oder dem Vierbeiner meine Meinung zu verkünden.     
Als in einem Herbst die Blätter von meiner Weinpflanze gefallen waren, entdeckte ich weiter oben im Wein ein Amselnest. Das nenne ich dann doch ein wenig dreist: sich direkt innerhalb meiner Obst-Vorratsräume ein Haus zu bauen. Ungestört dort im Nest sitzen, sich nur etwas strecken müssen, um an die Leckerei zu kommen und obendrein den Menschen auslachen, wenn der sich wundert, dass bei seinem Erscheinen kein Vogel lärmend wegfliegt! Wer hat da was von dummen Vögeln erzählt?
Vor einiger Zeit grassierte bei den Amseln der Usutu-Virus und dezimierte die Anzahl der schwarzen Gesellen so enorm, dass sogar sämtliche freihängenden Beeren und Weintrauben uns gehörten. Außerdem war es merklich stiller im Garten – das war schon etwas unheimlich. Ehrlich gesagt, bin ich heute froh, dass die Vögel mir wieder bei der Ernte helfen, da man in der heutigen Zeit für jedes Stückchen Natur dankbar sein sollte. Aber ich würde den Tieren Unrecht tun, wenn ich sie nur als Obstnascher darstelle. Sie sind nämlich keine Vegetarier, sondern es stehen auch kleine Tierchen auf ihrem Speiseplan: auf dem Rasen hüpfen sie umher, um Regenwürmer aus dem Boden zu ziehen – aber viel nützlicher ist für uns, dass sie auch Schnecken zum Fressen gerne haben. Um an tierische Nahrung zu gelangen, drehen sie auch schon mal den Garten auf links; soll heißen: sie schauen unter jedes Blatt und unter jedes Holzstückchen vom Rindenmulch, ob dort etwas Nahrhaftes zu finden ist. Doch keines der schnabelmäßig gehobenen Teile wird an den alten Platz zurückgelegt, sondern schwungvoll im hohen Bogen weg geschleudert. Da sie das (gefühlt) mit sämtlichen auf dem Boden liegenden und Erfolg versprechenden kleinen Gegenständen im Garten machen, sieht dieser dann auch entsprechend aus! „Du könntest ruhig mal deine Gartenwege frei machen“, muss ich mir anhören, obwohl ich diese erst am Vortag mit dem Rechen besenrein hinterlassen habe. Aber so ist das, wenn die Amseln ihren Hunger in meinem naturbelassenen Garten stillen, aber keinen Sinn für die menschliche Ordnung ­haben – warum auch?    
Doch wer könnte diesen schwarzen Sängern mit dem gelben Schnabel und den kecken ­Augen schon böse sein?                 

Manfred Kotters


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