Raffinierte Pflanzentricks

Der Mensch ist die Krone der Schöpfung! Er ist der optimale Endpunkt der Evolution. Da er denken, auf Probleme reagieren und Neues erfinden kann, muss es einfach so sein – sagt man zumindest. Tiere können das nicht, sie folgen lediglich ihrem Instinkt. Und Pflanzen? Sie können gar nichts, stehen rum und folgen nur den Vorgaben ihrer Gene. So weit – so theoretisch. Wir Gartenfreunde sehen diese grünen Geschöpfe allerdings mit völlig anderen Augen, da wir uns schon lange Zeit intensiv mit ihnen beschäftigt haben und sie deshalb nicht nur aus Büchern kennen. Im Folgenden möchte ich einige besondere, um nicht zu sagen: intelligente, Verhaltensweisen im Bereich deren Fortpflanzung (übrigens: ein interessantes Wort!) beschreiben.    

Nehmen wir zum Beispiel den Aronstab. In meinem Garten wächst er seit zwei Jahren. Sicherlich ist der Samen durch Vögel zu mir gelangt. Mein Nachbar Karl-Heinz warnte mich, dass der Aronstab sich mittelfristig zur Plage entwickeln könnte; warten wir’s einfach mal ab. Die Funktion der Blüte ist allemal bemerkenswert, da der hellgrüne Trichter mit Aasgeruch kleine Insekten in den Blütentrichter lockt, sie aber erst wieder in die Freiheit entlässt, wenn die Bestäubung erfolgt ist und die kleinen Flieger mit Pollen beladen sind, um den nächsten Aronstab zu befruchten. Jetzt erst erschlaffen die kleinen Härchen, die zuvor den Ausstieg verhinderten. Solch eine ausgeklügelte Methode kennen wir zumeist nur von den Widersachern des James Bond oder von Pflanzen aus fernen Ländern – aber so etwas Exotisches gibt es tatsächlich auch bei uns! Wie ist es möglich, dass diese Pflanze, oder besser: „die Natur“, solch einen raffinierten Trick entwickeln konnte?      

Dass Tiere bei der Fortpflanzung eingespannt werden, ist im Pflanzenreich recht üblich. Käfer, Schmetterlinge, Bienen oder sogar Kolibris sorgen mit ihrer Reise von Blüte zu Blüte für eine gelungene Bestäubung. Samen wiederum werden verbreitet, indem zum Beispiel die gesamte Frucht von Tieren gegessen wird. Manche Pflanzen produzieren ansprechende Früchte, um diese tierischen „Sämaschinen“ anzulocken. Sind die Früchte verschluckt worden, wird lediglich die Umhüllung als Nahrung genutzt, während der Samen in Magen und Darm lediglich „geschält“ wird und am Schluss mit Dünger versehen weit entfernt von der Mutterpflanze seine Endstation und damit seinen potentiellen späteren Lebensraum findet. Diese Verbreitungsfunktion können Kirschen essende Vögel, aber auch Gras fressende Pferde einnehmen, die so für die Ausbreitung zuständig sind. Doch auch kleine Tiere wie Ameisen werden von den einfallsreichen Pflanzen eingespannt. So haben zum Beispiel Veilchen und Ginster an ihre Samen kleine fressbare Anhängsel befestigt, die gerne von den emsigen Krabblern angenommen werden. Sie schleppen die Körnchen in ihr Zuhause, um das angebotene Futter zu verzehren. Die Samen wiederum können weit entfernt von ihrem Ursprung ein neues Leben beginnen. Auf diese Weise vergrößert sich das Ausbreitungsgebiet dieser Gewächse enorm.     

Doch nicht nur Tiere, auch wir Menschen werden von den Pflanzen als Samentaxi genutzt. Die Namen dieser zeitweiligen Untermieter sagen eigentlich schon alles: Kletten und Vergissmeinnicht. Bei den ersteren wünscht man sich, dass sie sich nur ans Hosenbein klammern und nicht die lockigen Haare auf dem Kopf als Transportmittel auswählen! Vergissmeinnicht blüht zwar herzerquickend im Frühsommer. Doch wenn der reife Samen produziert wurde und man diesem zu nahekommt, halten sich unzählige hakenbestückte Körnchen an der Kleidung hartnäckig fest, um uns zu sagen: „Vergiss mein nicht“! Auch hier fragt man sich immer wieder, ob bei diesen Methoden irgendwer oder irgendwas logisch nachgedacht hat.    

Dann gibt es sogar Pflanzen, die erst einmal abwarten, dass die Konkurrenten in ihrer Umgebung vernichtet worden sind – erst dann bequemen sie sich, mit dem Keimen zu beginnen. Ein Spezialist darin ist zum Beispiel die Amerikanische Küstenkiefer, bei der sich die gut verschlossenen Zapfen erst öffnen, wenn ein Brand über sie hingegangen ist. Wenn das nicht raffiniert ist!     

Noch mehr Geduld haben diverse Samen, die Jahrzehnte in der Erde ruhen und warten, bis sie passende Bedingungen vorfinden. Wird zum Beispiel irgendwo ein neues Haus gebaut, liegt daneben oftmals ein Hügel aus dem abgeräumten Mutterboden. Jetzt vergeht nur eine kurze Zeit bis der gesamte Erdaushub sich begrünt. Ein Klassiker hierbei ist die Gartenmelde. Lange genug hat der Samen auf diesen Augenblick gewartet. Nur – wie ist es diesen Körnchen möglich, dass sie Jahrzehnte in feuchter Erde überdauern und erst dann keimen, wenn die erforderlichen Licht- und Temperaturverhältnisse vorliegen? Warum und wie überlebt der Samen diese lange Ruhezeit, während andere Pflanzen wie Pastinaken oder Schwarzwurzeln bereits nach einem Jahr den Großteil ihrer Keimkraft verlieren? Hat er Sensoren, die auf Umweltreize reagieren und dann die Keimung veranlassen oder besteht die Außenhülle aus einem entsprechend sensiblen Stoff? Fragen, die sich auftun, wenn man über solche Alltäglichkeiten einmal genauer nachdenkt.      

Es gibt noch viele andere dieser außergewöhnlichen Eigenschaften (nicht nur) im Pflanzenreich. Man fragt sich, wie sich so etwas entwickeln konnte. Gibt es tatsächlich einen irgendwie gearteten „Schöpfer“, der das alles konstruierte? Oder ist alles reiner Zufall, bei dem nur vorteilhafte Mutationen das jeweilige Lebewesen weiterbrachten und ungeeignete Genveränderungen in eine Sackgasse führten und sie deshalb wieder verschwanden? Immerhin sprechen wir bei der Evolution über einen Zeitraum von vielen Millionen Jahren. Eine weitere Möglichkeit wäre es, wenn „die Natur“ zielgerichtet vorginge, um immer bessere (was das auch immer heißen mag) Lebewesen zu entwickeln. Falls ja, scheint mit dem Menschen der Evolutions-Höhepunkt erreicht zu sein. Aber ob „die Natur“ damit wirklich zufrieden sein kann?        

Manfred Kotters

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