Estragon ist nicht gleich Estragon

Alles fing auf einer Grillparty vor einigen Jahren an. Wie gewohnt, hatte jeder etwas mitgebracht: die unterschiedlichsten Getränke und natürlich Salate und Dips. Das Schöne: bei solch einer Gelegenheit bringt man immer nur das mit, was einem selbst auch gut mundet oder eben etwas völlig Überraschendes, das man von der Oma übernommen oder im Internet gefunden hat. Bei meinem Erkundungslauf durch die diversen Schüsselinhalte stieß ich auf einen Dip, der einen außergewöhnlich ansprechenden Geschmack hatte. Zufälligerweise hatte ich gesehen, wer die Schüssel dort hingestellt hatte, also konnte ich rasch nachfragen, was das denn für eine Geschmacksrichtung wäre. Die Antwort: „Estragon“. Ja gut – aus Kreuzworträtseln, Koch- und Gartenbüchern kannte ich zwar das Wort und von Bildern die Pflanze, aber mehr auch nicht. Dieser fast exotische Geschmack, der ein wenig in Richtung Fenchel/Anis ging, faszinierte mich sofort.   

Estragon musste in meinen Garten – das war klar. Auf dem Wochenmarkt wurde ich bei einem Kräuter- und Gewürzstand fündig. Super – jetzt konnte unsere Küche kulinarisch komplett aufgewertet werden. Ungeduldig wartete ich darauf, dass ich die ersten Blättchen ernten könnte. Der Tag war da und mit ihm eine große Enttäuschung. Das sollte ­Estragon sein? Der Geschmack ging nur ganz entfernt in die erwartete Richtung Estragon, sondern eher in Richtung Gras! Wo blieb meine Verzückung? Da ich mich selten auf den ersten Eindruck verlasse, ließ ich noch einige Zeit ins Land gehen – vielleicht würde doch noch alles gut werden. Wurde es aber nicht. Der Geschmack ähnelte nur ganz entfernt dem Dip der Grillparty.   

Aber es gibt ja Möglichkeiten der Aufklärung. Schließlich fand ich, dass es zum einen den russischen Estragon gibt, der als Urform gilt, und daneben den französischen (oder auch „deutschen“) Estragon, der ausgeprägter im Geschmack sein sollte. Das schien also die Lösung zu sein.  

Ergo: wieder zum Wochenmarkt und zum Kräuterstand. Als ich meinen Wunsch formulierte: „Eine Estragonpflanze – aber bitte den französischen“, musste ich in ein mehr oder weniger verärgertes Gesicht schauen, (das mir zu sagen schien: „was will der Schlaumeier mir denn da erzählen!“) und mir anhören: „Estragon ist Estragon! Da gibt’s keine Unterschiede.“ Ja – manchmal stößt man im Leben halt auf Fachleute, die zwar so aussehen aber gar keine sind. Resultat: „Tschüss!“ und auf anderen Wochenmärkten und in guten (!) Gartenfachgeschäften weitersuchen. Und tatsächlich fand ich ihn – den Franzosen. Als ich die Pflanze mit derjenigen in meinem Garten verglich, konnte ich feststellen, dass der Wuchs und insbesondere die Blätter des „Neuen“ etwas feingliedriger und zarter waren und sein unvergleichliches Aroma sich bereits entwickelte, als ich lediglich ein Blättchen zwischen den Fingern zerrieb. Ja – das war er. Einhundert Prozent Wiedererkennungswert.   

Der russische Estragon musste noch am selben Tag meinen Garten verlassen, was er allerdings nur widerstrebend mit sich machen ließ, da er bereits Ausläufer gebildet hatte. Solche Ausläufer gibt’s beim französischen nicht. Da er zudem nicht die robuste Urform des Estragons ist, verhält er sich auch etwas zimperlicher. Schon die ersten kalten Tage im Herbst veranlassen ihn, die Blätter zu bräunen oder sogar abzuwerfen. Er ist zwar recht frosthart, verschwindet im Winter aber unter die Erdoberfläche und erscheint erst wieder im Frühjahr. Er möchte einen nicht zu trockenen Boden, und je mehr er die Sonne genießen kann, desto intensiver soll sein Geschmack sein. Unser Estragon steht ganztägig in der Sonne, und er verwöhnt uns tatsächlich mit seinen köstlichen Aromen. Außerdem liebt er es, jährlich eine Kompostgabe und nach einigen Jahren einen neuen Standort zu bekommen. Dazu muss ich schon die gesamte Pflanze ausgraben und umpflanzen, da er wie gesagt keine Ausläufer bildet, die ich zur Vermehrung hätte verwenden können. Aber sein zauberhafter Geschmack lässt mich in den Sommermonaten all diese Zusatzarbeiten vergessen.   

Neben den Dips verfeinert er auch unsere eingelegten Essiggurken und die Salate. Jetzt warte ich nur noch darauf, dass mich jemand auf einer Grillparty fragt, was das denn für ein besonderes Gewürz in meinem Salat sei; denn Estragon sorgt garantiert dafür, dass die Geschmacksnerven (wenn sie es könnten) bei dem Kontakt mit ihm augenblicklich „Mehr davon!“ rufen!   

Manfred Kotters

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